Ist das Buch oder kann das Kunst?*

©Leonie Rost: „Das Plastikbuch – Ausreichend Plastik, eh, Platz für Deine Gedanken!“ (2022)

Das Upcycling-Projekt – Ein kleiner Beitrag mit großer Wirkung (So steht’s im Skript)

Ich binde Bücher oder sog. Junk/Art Journals mit baumfreiem Zuckerrohrpapier oder Graspapier. Einem „Use what you found“-Prinzip folgend, bestehen alle Bücher aus gefundenen, gesammelten, geschenkten und selbst hergestellten Materialien, sog. Müll, Unkonventionellem (wie Plastik, Holz, Gehäkeltem), Zeichnungen, Öl-, Acryl-, Pastellmalereien, Papiercollagen und Papierschnitt-Werken. Die Art der Herstellung ist für mich die auf Werten basierte und übergeordnete künstlerische Aussage.

©Leonie Rost: Links: Notiz- o. Zeichenbuch mit Zuckerrohrpapier, Cover aus Pastellzeichnung; verkauft (2022). Rechts: 3 Auftragsbücher aus Pappresten und Papierschnipseln, mit Jutekordel gebunden (2022)

Was ist die Intention dahinter?

Mir geht es nebst Ästhetik und Funktion darum, zu vermitteln, dass „Müll“ nicht gleich „Müll“ ist, dass mensch auch mit dem bereits in der Welt Bestehendem gut leben oder in kreativen Prozessen Neues in die Welt bringen und für den eigenen Bedarf realistisch-mündig Konsumentscheidungen treffen kann.

Eine rechteckige, blättrige Form, die ein bisschen Müll aus der Welt (weg)nimmt, reell und symbolisch, in der ein Stückchen Identität und Potential konserviert werden kann. Materialkosten werden auf ein Minimum reduziert, um prekäre Arbeitszeitvergütung zu kompensieren. Transformierter Müll, als Beispiel dafür, dass Wertigkeit nicht pauschal mit maschineller Produktion und First-Hand-Materialien gleichzusetzen ist. In meinen Augen wird „das Alte“ durchaus gebraucht und ist es wert, ein zweites, neues Leben geschenkt zu bekommen.

©Leonie Rost: Upgecyceltes Notizbuch mit Graspapier, u.A. aus altem Rezeptbuch, Magazinseiten und Jutekordel (2023)

Recycling bzw. Upcycling packen das Problem langfristig nicht an der Wurzel und Downcycling ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Gäbe es so viel zu recyceln, wäre unsere Abfallproduktion nicht so hoch? Was passiert mit den Kunststoffen, die nicht recyclebar sind (z.B. Kleidung aus Fasergemischen der Ultra Fast Fashion Konzerne)? Ab ins Meer damit? Textilberge ‚anderswo‘ verbrennen? Anhäufen, bis wir darin ersticken?

Die Masse und der*die Einzelne

Im alltäglichen Konsum rückt mehr und mehr in den Hintergrund, dass jedes an eine breite Masse gerichtete Produkt ursprünglich einem unvergleichlichen ‚Prototyp‚ zugrunde lag. Das Unvergleichbare, das in einer einzigartigen Komposition unzähliger individueller und sozialer Faktoren in kreativen Prozessen entstanden ist.

Müll, Müll und wieder Müll: Überflussgesellschaft = Wegwerfgesellschaft?

Alles, was Massenprodukt ist, war ursprünglich ein Einzelnes. Heute lassen sich mehr denn je Tendenzen der Normierung und Uniformierung über Massentrends und Massenmedien in Design, Kunst sowie Mode konstatieren, die Propagierung eines individualisierten Selbst wird ad absurdum geführt. Ideenklau wird in inflationärem Maße betrieben. Zynisch gefragt: Wozu noch Ideen entwickeln, wenn diese von Großkonzernen, KI-Mixern oder Personenkult-Maschinerien geklaut oder unter dem Deckmantel von ‚Talentförderung‘ einverleibt werden? Wozu dem Eigensinnigen, Selbsthergestellten eine Chance geben, wenn Zeitaufwand und monetäre Wertschätzung, orientiert am Massenkonsum, in keinem Verhältnis stehen? Ist die Vermarktung von Qualität wirklich die Lösung? Wie viel Fake-it-till-you-make-it-Selbsthypnose kann ein Mensch ertragen? Und sowieso: Wie böse ist eine Person wirklich, die auf Kosten anderer Reichtum anhäuft, wenn selbst unklar ist, ob mensch nicht, gäbe es die Option, mit diesem tauschen würde? Wie viel Gierkontrolle im Psychohygiene-Management kann von dem*der Durchschnittsbürger*in hierzulande erwartet werden?

Es ist alarmierend, und das nicht erst seit Friday’s for Future. Die Ressource Natur, dazu zählt für mich der Mensch, wird im Kampf um höheren Sozialen Status ausgebeutet, um einen bequemen westlichen Lebensstandard zu inszenieren, der sein wackeliges Fundament auf der Ausklammerung prekärer Lebenslagen ‚anderswo‚ errichtet. R.I.P. Gleichheitsutopien. Wenn mensch immer mehr vom Billigen kauft, damit aktiv zur Vermüllung der Erde beiträgt und sein Gewissen erst gar nicht damit belastet, was er damit anrichtet, sich darüber hinaus für ausgesprochen gewieft hält… Welche Optionen bleiben da, außer liberales Denken als Qualität anzuerkennen, den Schuss ins eigene Bein der Spezies demütig hinzunehmen und sich auf realistische Wirksamkeitsbereiche zu beschränken? Vermutlich wenig konstruktiv: Im wütenden Mob Alles und Jeden zu dämonisieren und damit jegliche Verantwortung auf „die da oben“ (…) abzuwälzen.

©Leonie Rost: Ausschnitte: „Planet A – ach egal, betrifft mich ja nich“ (2022)

Vermüllst Du schon oder optimierst Du noch?

Marketingapparate der Industrien, deren Wirtschaftserfolg auf den Selbstwertkomplexen potentieller Kund*innen fußt, injizieren uns in Social Media: Ich optimiere, also bin ich. Influencer*in xy transportiert die Botschaft ausgesprochen ‚authentisch‘: „Wenn du wie ich bist, bist du glücklich und beliebt. Du kannst wie ich sein, wenn du dieses „Überschreib-dich-selbst-Programm für heute nur 990€ kaufst. Sichere Dir mit dem Code VERSCHWENDETELEBENSZEIT9 0,9% Rabatt!“. Die trendigen Begriffe der Selbstoptimierung und ‚Persönlichkeitsentwicklung‘ haben viel von der Anbetung einer überhöhten Ich-Gottheit, die zur Erlösung zu führen scheint. Nur nachvollziehbar, dabei JETZT ein wenig gutgemeinte Hilfe zu BRAUCHEN. Ein Glück, dass Influencer*in xy dafür das passende Produkt hat, „und wenn ich es in Raten zahle, habe ich sogar in ein paar Jahren noch etwas davon!“. Einen Greenwashed-Smoothie schlürfend, kann das Gehirn inkl. Wegwerf-Textilien gleich mit entsorgt werden. Oder wollen wir das genau so? Ist nur der sich manipuliert Fühlende ein armes Fleischersatz-Würstchen? 🧠➡️🗑️

Im Wiederverwenden, Neuanordnen, Selbst-Schöpferisch-Werden, im mündigen, verantwortungsbewussten Entscheiden und Handeln liegt meiner Meinung nach ein großes Potential und ein hoher Wert für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft – im Kleinsten sowie Großen. Sich der permanenten Verfügbarkeit materieller Güter ausgesetzt zu sehen – während Affiliate-Marketing in den Sozialen Medien psychologisch immer raffinierter wird – und sich trotzdem einen Moment zu nehmen, um darüber nachzudenken, was mensch wirklich zum Leben braucht, ist in der heutigen Zeit ein mutiger Akt, birgt er das Risiko sozialer In- und Exklusivität.

©Leonie Rost: Digitale Studien: Plasticworld – Yourself first (2021)

Hier und jetzt statt ‚anderswo‘

Das Konsumieren und Produzieren geht miteinander Hand in Hand. Es gibt kein schwarz oder weiß, gut oder schlecht, richtig oder falsch in Bezug auf das eigene Handeln. Ich denke, um Veränderungen im Sinne der Reduktion von persönlichem Leid und Ressourcenverschleiß ‚anderswo‘ zu initiieren, gilt es anzuerkennen, dass der treibende Motor hierfür weder ein gutes, noch schlechtes Gewissen ist, sondern Selbstehrlichkeit und Aktivität. Kreativität und Einfallsreichtum im Großen und Kleinen, im lebensnahen Alltag und Kontext des Weltgeschehens, ist kein „Privileg“ der Berufs-Künstler*innen, sondern wohnt als Schöpfer*innenpotential jedem Menschen inne.

Influencer-Marketing zeigt ja: Der Selbstoptimierungswahn, also das Ausklammern-Wollen von bewusst oder unbewusst als defizitär deklarierter Selbstanteile und Gefühlen innerer Leere, vermüllt die Welt. Und was sollte geringeres dahinter stehen, als das fundamentale Bedürfnis, geliebt zu werden und als eigen(sinnig)er Mensch in die Gemeinschaft eingebunden zu sein? Ein aus biologischen und anthropologischen Gesichtspunkten nachvollziehbares Grundbedürfnis, nur in der Umsetzungspraxis entgleist und kollektiv leiderzeugend, nachhaltig für sich und andere.

Das Hinterfragen des eigenen Handelns wird nicht selten als Unsicherheit missverstanden, während Fanatismus viel zu oft mit Wahrheit und Sicherheit verwechselt wird. Dass ein Gedanke immerwährend, generalistisch und absolut wahr sein kann, wie Ideologien aller Art behaupten, scheint mir die größte manipulative Blendung überhaupt zu sein. Dass uns einer der aktuell wie verrückt aus dem Boden sprießenden Lebens-Coaches mit seinem 3-Schitte-Programm zu Reichtum und Glückseligkeit für alle Ewigkeit führen kann, erscheint mir gleichermaßen unrealistisch wie alarmierend, ebenso wie der egozentrisch motivierte Selbstoptimierungswahn. Wobei das Eine mit dem Anderen Hand in Hand geht. Habgier und Ängste lassen sich nicht wegcheaten, auch wenn letztere kläglich scheiternd so oft durch ersteres zu eliminieren versucht werden. Die der menschlichen Spezies immanenten Polaritäten lassen nur in ihrem Arrangement miteinander, nicht der Ausklammerung, weitere menschgemachte Katastrophen abwendbar erscheinen. Relevant ist nur, welche Selbstanteile wir mit Gedanken und Taten nähren.

Ich bin überzeugt: Wir haben Einfluss und sind ermächtigt, unsere Welt mitzugestalten – sei es über materielle, mediale, soziale oder kulturelle (Konsum)Entscheidungen. Oft ganz einfach.

Mehr reparieren als zerstören, pflanzen als ernten, müßig gehen als totoptimieren. In jedem Fall ein Mehr an persönlicher Erfüllung, Integrität und Echtheit.

Welche Welt wünschen wir uns für unsere nachfolgenden Generationen? Wen oder was sollte es betreffen, wenn nicht uns als die Triebfeder eines kulturellen Wandels.

Der junge Idealismus, den ich in mir zu tragen scheine, ist nur ein Potential, dass in der Zurückweisung unzählige Male auf dem Boden zerschellt. Ich bevorzuge, aus den Scherben unentwegt ein neues Mosaik zu kreieren. Verwirklichung kann nur durch tätigen Ausdruck erreicht werden. Meine Arbeit, seien es aus Müll hergestellte Bücher oder Upcycling-Kunstwerke, sind als winzige Puzzleteile nur ein Anfang, ein bewusster Schritt. Und doch ist die passgenaue Zusammensetzung jedes einzelnen Puzzleteils für ein schlüssiges und vollständiges Werk unabdingbar.


*Dieser Beitrag ist informell-subjektiv aus der Gedankenwelt der Verfasserin extrahiert. Meinungen können überholt und die Autorin aus Launenhaftigkeit oder Sinneswandel auf die dunkle Seite der Macht konvertiert sein. Weiterführende Links für eine selbstständige Recherche finden Sie unter der Rubrik „Bibliothek“.

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